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Jüdische Auslegungen und Positionen
zu den Jesajazitaten der christlichen Schriften

Michael Hilton

Text und Mission

Die Einstellung zum Christentum hat das jüdische Verständnis der Bibel seit der Antike beeinflusst. Auch heute noch ist die Schrift oft ein trennendes Element zwischen Juden und Christen. In der Absicht, Juden zu bekehren, zitieren Missionare nach wie vor aus den hebräischen Propheten. Die Besorgnis der Juden über christliche missionarische Aktionen wurde zu einem Thema der Kirche. Bei der Lambeth Conference der anglikanischen Kirche war dies 1988 ein Hauptgesprächspunkt. Auch in den offizillen Erklärungen schlugen sich die Meinungsverschiedenheiten nieder:

- - Innerhalb des Christentums finden sich heute viele verschiedene Haltungen dem Judentum gegenüber. Auf der einen Seite stehen jene Christen, die darum beten, dass Juden ihre Erfüllung in Jesus, dem Messias, finden mögen, ohne jedoch ihr Judentum aufzugeben. Andere betrachten es als ihre besondere Berufung und Verantwortung, ihren Glauben mit Juden zu teilen und drängen sie dazu, den spirituellen Reichtum zu sehen, den Gott ihnen durch den jüdischen Glauben geschenkt habe. Andere Christen sind der Meinung, dass Jesus, indem er das Gesetz und die Weissagungen der Propheten erfüllte, die jüdische Beziehung zu Gott bestätigt habe, indem er durch seine Person diesen Weg für die Heiden öffnete. Wieder andere haben durch den Holocaust eine veränderte Wahrnehmung; solange das Christentum eines glaubwürdigeren Zeugnisses entbehrt, seien sie von Gott verpflichtet, Juden in ihrem Gottesdienst und ihrem Verständnis von Gott, dem Vater Jesu Christi, zu bestätigen. Alle diese Zugänge erkennen an, dass Christen heute eine neue, bessere Beziehung zum Judentum suchen. Wir drängen darauf, im Licht der Schrift und angesichts der historischen Tatsachen über das Wesen der Beziehung in Gedanken und Gebeten weiter nachzudenken.

- - Diese beiden Positionen zeigen jedoch das Anliegen, dem Judentum gegenüber sensitiv zu sein und lehnen jegliche Bekehrungsversuche ab, das heißt aggressive und manipulative Versuche, Menschen zu bekehren und selbstverständlich auch jegliche Spur von Antisemitismus. Außerdem haben Juden, Muslime und Christen einen gemeinsamen Auftrag. Sie teilen den Auftrag an die Welt, dass Gottes Name geehrt werden soll: »Geheiligt werde dein Name.« (Matthäus 6,9). Sie teilen die gemeinsame Verpflichtung, Gott mit ihrem ganzen Sein zu lieben und ihre Nächsten wie sich selbst. »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden.« Und im Dialog wird es ein gegenseitiges Zeugnis geben. Durch das Lernen voneinander wird jeder tiefer in sein eigenes Erbe eindringen. Jeder wird den anderen an Gott erinnern und Gottes Willen sorgfältiger ausführen. Es wird eine gegenseitige Bezeugung zwischen gleichwertigen Partnern sein.

Bei genauem Lesen dieser Texte kann man einige der Meinungsverschiedenheiten entdecken, die in die Formulierungen eingeflossen sind. Wenn ein Dokument einer Konferenz mit der Aussage beginnt: »Einige glauben..., andere glauben...«, dann zeigt dies, dass die zitierten Ansichten Gegenstand einer Diskussion, möglicherweise einer harten Auseinandersetzung waren. Innerhalb des Christentums gibt es sehr unterschiedliche Meinungen darüber, welche Haltung man dem Judentum und anderen Religionen gegenüber einnehmen soll. Ein früherer Entwurf der zitierten Erklärung enthielt den Satz, Judenmission sei in unserer Zeit generell nicht mehr angemessen. Es stellte sich aber heraus, dass der evangelikalere Flügel der anglikanischen Kirche dies nicht akzeptieren konnte. Daher findet sich in der endgültigen Textfassung nun die merkwürdige Aussage über »aggressive und manipulative Versuche, Menschen zu bekehren«, ohne jedoch zu definieren, was gemeint ist.

Ein interessanter Aspekt der Lambeth Conference Erklärung ist der Umgang mit Schriftzitaten. Die Einstellung diesen Texten gegenüber ist für die Auseinandersetzung wesentlich, denn die Schrift ist für viele unterschiedliche Lesarten und Interpretationen offen. Da ist das historische Verständnis, das jeden Text als das Produkt seiner eigenen Zeit versteht. Ihm steht ein fundamentalistisches Verständnis gegenüber, demzufolge jeder Text unmittelbar in unsere eigene Zeit spricht, so als lebten wir noch immer in der Zeit der Bibel. Viele verstehen die biblischen Texte heute so. Man denkt dabei unwillkürlich an jenen Typ Missionar, der mit der Bibel in der Hand vor der Tür steht und fragt: »Haben sie nicht erkannt, dass es in der Schrift so und so heißt?«

Text und Midrasch

Eine dritte Verstehensweise der Schrift ist die rabbinische Vorstellung des Midrasch. Sie gilt oft als jüdische Auslegungsmethode, wurde aber in Wirklichkeit viele Jahrhunderte lang von beiden Religionen angewendet und bildete ein praktisches Mittel in Auseinandersetzungen. Der Begriff Midrasch bedeutet »Forschung«. Er bezeichnet eine bestimmte Form der rabbinischen Literatur, die sich auf biblische Texte gründet. Diese Literaturgattung kann die Gestalt einer Predigt oder die eines Kommentars haben. Der Midrasch greift einen Text aus der Bibel auf und interpretiert ihn in einer lockeren Art und Weise, indem er Vorstellungen und Geschichten in diesen Text hineinliest. Er sagt nicht, was der Text bedeuten soll, sondern bietet eine Vorstellung an, die man aus diesem Text oder in Zusammenhang mit ihm herleiten kann. Die Bibelzitate dienen als »Belegstellen«, was allerdings nicht bedeutet, dass der zitierte Text wörtlich gelesen etwas »belegt«. Vielmehr wählte der Prediger oder Schreiber einen heiligen Text, um sein Thema zu begründen. Solche »Belegstellen« sind auch heute beliebt. Sie werden jedes Wochenende in Kirchen und Synagogen von Predigerinnen und Predigern benutzt, um ein besonderes Thema heraus zustellen. Genauso wird die Bibel in der Lambeth-Erklärung verwendet.

Die römisch-katholische Kirche diskutierte die Frage der korrekten Interpretation von Texten in der »dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung« (constituito dogmatica de divina revelatione), die das zweite vatikanische Konzil 1965 erließ. Viele Jahrhunderte lang waren Christen allgemein davon ausgegangen, dass die Worte der Bibel von Gott diktiert wurden. Folglich barg jeder Versuch, sie wie den Midrasch zu interpretieren, die Gefahr, dass der Text und damit Gottes klare Botschaft verzerrt würde. Doch die »dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung« lautet:

Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er — in ihnen und durch sie wirksam — geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern. Menschliche Verfasserschaft steht also nicht im Konflikt mit einer göttlichen Offenbarung. Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.

Mit anderen Worten: Wer versteht, was die menschlichen Verfasser sagen wollten, vernimmt Gottes Wort. Dies ist etwas ganz anderes als die Aussage, dass ihre Texte als von Gott diktierte Worte niedergeschrieben worden seien. Die Interpretation wird hier also zu einem notwendigen Teil der katholischen Auseinandersetzung mit diesen Texten.

Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend — mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen — hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muß man schließlich genauso auf die vorgegebenen und weltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren. Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift. Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen.

Die Tradition, innerhalb derer ein Text gedeutet wird, ist also ebenfalls eine Quelle zu seinem Verständnis und nicht notwendigerweise eine Verzerrung. Diese Konstitution wertet die heiligen Schriften als Texte, die sowohl innerhalb ihres eigenen Kontexts als auch durch spätere Erfahrung interpretiert werden müssen, wenn der Christ das Wort Gottes vernehmen will, das sie enthalten.

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