Tschuvot Va’ad HaHalacha Schel Knesset HaRabbanim B’Jisrael
HaTnu’a HaMassortit
Ist das Rauchen nach der Halacha verboten?
(1)
*HM 427*
Rabbi David Golinkin
Sche’elah:
Im Licht Dutzender
wissenschaftlicher Studien: ist das Rauchen nach dem jüdischen
Gesetz verboten? Wenn dem so ist, warum wird in der
ultraorthodoxen Gemeinschaft so hemmungslos geraucht, jene
Gemeinschaft, die ansonsten sehr darauf bedacht ist, die Gebote
zu erfüllen?
Tschuvah:
Seitdem 1964 der 'Surgeon
General Report' (2) zum ersten Mal auf die Gefahren des Rauchens
hinwies, wurden zu diesem Thema über vierzig Tschuvot
geschrieben (3).
Die Mehrzahl dieser Tschuvot, ob orthodox, konservativ oder
reform, entschieden, dass das Rauchen von Zigaretten seitens des
Jüdischen Gesetzes verboten ist. Für dieses Verbot zeichneten
sich mindesten dreizehn Gründe verantwortlich.
Sechs dieser Gründe sollen hier aufgeführt werden.
1. Maimonides Mischneh Torah
enthält eine Liste von Verhaltensweisen, die zugunsten der
Gesundheit vermieden werden müssen (De’ot, Kap. 4).
In der Einführung wird konstatiert:
'Den Körper gesund und vollständig zu erhalten, ist G’ttes Weg, da
es unmöglich ist, irgendetwas von G’tt zu begreifen oder zu
wissen, wenn man krank ist, und darum muss der Mensch sich von
Dingen fernhalten, die seinen Körper zerstören und sich
Verhaltensweisen zuwenden, die den Körper gesund erhalten bzw.
ihn heilen.'
Das Rauchen von Zigaretten ist zweifelsfrei ein Verhalten, das
"den Körper zerstört", und ist demnach laut Maimonides nicht
erlaubt.
2. In Deut. 4:9 spricht G’tt
zum Jüdischen Volk: "Nur hüte Dich sorgfältig, und behüte Deine
Seele". Der Talmud (BT Berachot 32b) folgert aus diesen Worten,
dass ein Mensch auf den Erhalt seiner physischen Gesundheit
genauestens achten muss. Die Lehrmeinung des Talmud wurde von
Maimonides (Rotzeach 11:4) und im Schulchan Aruch (Choschen
Mischpat 427:8) kodifiziert. Daraus kann man ableiten, dass
jeder Raucher das Gebot "hüte Dich sorgfältig" überschreitet.
3. Zusätzlich zu den oben
genannten Punkten, wurden viele Verhaltensweisen durch die
Rabbiner mit Verbot belegt, wenn sie menschliches Leben
gefährdeten: das Trinken von Wasser aus einem unbedeckten Fass -
das Wasser hätte durch eine Schlange vergiftet sein können
(Mischnah T'rumot 8:4-5), oder Münzen in den Mund zu nehmen -
die Münzen könnten durch Bakterien verseucht sein (TJeruschalmi
ibid. 8:3) und das Überschreiten einer bröckeligen Mauer oder
einer desolaten Brücke, die jederzeit zusammenbrechen könnten
(BT Rosch HaSchanah 16b).
Bei Maimonides und im Schulchan Aruch, finden sich die
Kodifizierungen dieser Verbote, sie betonen, dass diese
Beispiele lediglich Muster sind und keine Liste von definitiven
Fallbeispielen. (4)
Daher ist das Rauchen in die von unseren Weisen aufgestellte Liste
der verbotenen Verhaltensweisen miteinzuschliessen, da sie
menschliches Leben gefährden.
4. Nach der Mischnah (Baba
Kamma 8:6) ist es einem Menschen nicht erlaubt, sich selbst zu
verletzen, ein Prinzip, welches durch die Standartwerke der
Halachah (5) festgeschrieben wurde. Das Rauchen ist eine Form
der Selbstverletzung und ist somit halachisch verboten.
5. Der Talmud legt fest:
'hamira sakanta mei'issura' (Regelungen, die die Lebensgefahr
betreffen, haben Vorrang vor rituellen Geboten: "Schliesse
hieraus, dass es bei Lebensgefährlichem strenger ist als bei
Verbotenem", BT Chullin 10a). Mit anderen Worten, im Falle einer
möglichen Überschreitung des Jüdischen Gesetzes, entscheidet man
mit Nachsichtigkeit, aber im Falle von Lebensgefahr wird streng
entschieden. Der Rema entscheidet, aus Chullin folgernd (Yoreh
De'ah 116:5): "Man soll auf alle Dinge achten, die zu Gefahr
führen, wegen 'hamira sakanta mei'issura' und man sollte stärker
auf eine mögliche Gefahr achten als auf eine mögliche
Überschreitung eines rituellen Gebotes."
Auch wenn jemand glaubt, das Rauchen von Zigaretten sei nicht
notwendigerweise schädlich, so ist es aus dieser Perspektive
wegen einer möglichen Gefährdung des Lebens dennoch verboten.
6. Manche Raucher meinen, ihr
Glaube an G'tt werde sie vor den Gefahren, die damit verbunden
sind, bewahren. Im Talmud finden sich bereits vielfach
Entscheidungen darüber, dass man sich keineswegs selbst in eine
gefährliche Situation begeben darf, denn "man soll sich nicht
auf Wunder verlassen" (6). Dieses Prinzip wurde explizit auch in
dem hier behandelten Kontext im Schulchan Aruch festgelegt
(Yoreh De'ah 116:5).
Ein Raucher darf sich demnach nicht auf Wunder verlassen und hat
das Rauchen aufzugeben.
Wenn das Rauchen so deutlich
durch die Halacha verboten wird, warum ist dieser Habitus
ausgerechnet in ultra-orthodoxen Kreisen so verbreitet?
Es mag daran liegen, dass ultra-orthodoxe Poskim das Rauchen als
schlechte Angewohnheit zwar missbilligt und zum Rauchen nicht
ermutigten, jedoch tatsächlich nie ein Verbot aussprachen. Der
bekannteste Posek unter ihnen war Rabbi Mosche Feinstein
(1895-1986), der fünf Responsen zu diesem Thema geschrieben hat
(7). 'Normalerweise' unterstützt der Talmud es nicht, mit einem
anerkannten Posek nach dessen Tod zu differieren, da dieser dann
nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen (Gittin
83b).
Aber das Thema Rauchen ist kein 'normales' Thema, sondern hier
geht es um piku'ach nefesch, um Lebensrettung, welches als Thema
Vorrang vor beinahe allen Mitzwot in der Torah hat (Sanhedrin
74a). Es ist wichtig, diesen Ansatz (von Gittin 83b, Anm. d. Ü.)
zu widerlegen, denn er hat einen weitaus grösseren Einfluss auf
die ultra-orthodoxe Gemeinschaft als jede andere halachische
Entscheidung.
1. 1964 weigerte sich Rabbi
Feinstein das Rauchen zu verbieten, "besonders weil grosse
Toragelehrte sowohl der vergangenen Generationen als auch
unserer Zeit rauchen". Diese Aussage ist natürlich irrelevant,
denn erstens wussten diese Weisen nicht, dass das Rauchen
gesundheitsschädigend ist - im Gegenteil, sie dachten dieses
Verhalten sei gesund und verdienstvoll (8). Als R. Israel Meir
Hakohen, der Chafetz Chajim (1838-1933) von Ärzten hörte, dass
das Rauchen für "schwache Menschen" gefährdend sei, entschied
er, dass diese das Rauchen einstellen sollten (9)! Zweitens
glaubte Rabbi Feinstein daran, dass die grossen Toragelehrten
über da'at tora , welche vom ru'ach ha'kodesch beeinflusst sei,
verfügten und dass sie deshalb unfehlbar seien (10). Diese
Ansichten wurden in moderner Zeit eingeführt und sind dem
normativen Judentum vollkommen fremd (11).
2. Rabbi Feinstein scheint den
bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Gefahren des
Rauchens gegenüber vollkommen unbewusst gewesen zu sein. Selbst
in seiner Tschuvah von 1981 vergleicht er das Rauchen mit jenen
"Nahrungsmitteln, die die Menschen lieben, wie fettes Fleisch
und scharfe Gerichte".
Im Kontrast dazu entschieden jene Poskim, die sich mit den
wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt hatten, dass das
Rauchen nach dem jüdischen Gesetz absolut verboten ist (12).
3. Der Talmud erwähnt die
Gefahr, die bei der Beschneidung eines Kindes besteht, oder an
einem wolkenreichen Tag Blut zu lassen oder an einem Tag, wenn
der Südwind bläst, aber da bereits viele diesen Weg gingen (und
ihnen nichts zustiess), "behütet G'tt die Einfältigen" (Ps.
116:6 und BT Yevamot 72a). Rabbi Feinstein und andere bezogen
das Rauchen in dieses Prinzip mit ein. Da viele, trotzdem sie
Raucher waren, nicht daran starben, "beschützt G'tt den
Einfältigen". Diese Analogie ist jedoch in der Tat fragwürdig.
"G'tt behütet die Einfachen" mag zutreffen, wenn die
Gesellschaft einfältig ist und der Gefahren des Rauchens nicht
bewusst. Heute ist jeder Raucher in grossem Mass vor den Risiken
gewarnt, und trotzdem werden diese Warnungen ignoriert. Darum
kann man ihn nicht als "einfältig" bezeichnen und G'tt wird ihn
auch nicht beschützen. Der Raucher bringt sich - ganz im
Gegenteil - bewusst in Gefahr, und dies ist eindeutig verboten.
Dazu kommt, dass in den fünf Fällen, in denen der Talmud dieses
Prinzip beschwört (13), die Aktivität selbst ungefährlich und
harmlos ist (z. B. essen) oder eine Mitzwah (Beschneidung) und
die Rabbiner daher bereit waren, eine äusserliche Gefahr zu
ignorieren, indem sie das Prinzip "G'tt behütet den Einfältigen"
einwandten. Das Rauchen selbst kann jedoch tödlich sein und
passt darum nicht in diese Argumentation.
Eine Reihe von Rabbinern betont zu guter letzt, dass der Talmud
dieses Prinzip nur dann heranzieht, wenn die Gefahr nicht
erkennbar ist, aber es kann nicht angewandt werden, wenn klar
und deutlich zu sehen ist, das das Rauchen gefährlich ist, und
G'tt wird demnach den Raucher auch nicht beschützen.
4. Weiterhin steht Rabbi
Feinstein's Einstellung zum Rauchen von Zigaretten in deutlichem
Widerspruch zum Rauchen von Marihuana. In einem wenig bekannten
Responsum von 1973, das sich mit Marihuana befasst, erklärt er:
" Es (der Genuss von Marihuana) ist offensichtlich verboten
durch eine Reihe von grundlegenden Gesetzen in der Torah.
Erstens, es beschädigt und zerstört den Körper."
Der Widerspruch ist auffallend: während Marihuana verboten ist,
weil es den Körper zerstört - ein Fakt, der allerdings noch
wissenschaftlich zu beweisen ist - während das Rauchen, das
erwiesenermassen zum Tode führen kann, nach dem Prinzip "G'tt
behütet die Einfältigen" erlaubt bleibt!
Er fährt fort: "Weiterhin verursacht der Genuss von Marihuana ein
starkes Verlangen, welches stärker ist als das Verlangen nach
Essen, welches lebensnotwendig ist, um das menschliche Leben zu
erhalten." Und Zigaretten tun dies nicht?
(Allerdings macht Rabbi Feinstein ein ähnliches Statement
bezüglich dem Rauchen von Zigaretten in einer Tschuvah von
1981.)
In seinem Responsum zum Rauchen von Marihuana entscheidet er: "Es
ist eindeutig verboten, sich selbst in einen Zustand zu bringen,
in dem ein Verlangen nach etwas grösser ist als das Verlangen,
zu essen und zu begehren, was niemand braucht." Sind denn
Zigaretten tatsächlich ein anderes Thema als dieses? Wenn der
Genuss von Marihuana verboten ist, weil es den Körper zerstört,
ein grosses Verlangen heraufbeschwört und es niemandem dient,
dann sollte das Rauchen von Zigaretten aus genau denselben
Gründen verboten sein!
5. Zuguterletzt vermuten
Viele, dass Rabbi Feinstein und Andere ein Verbot bezüglich des
Rauchens ablehnten, da sie an das talmudische Prinzip dachten:
"man lege der Gemeinde nur dann eine Erschwerung auf, wenn die
Mehrheit sie ertragen kann" (BT Baba Kamma 79b und andere). In
anderen Worten: wir können das Rauchen nicht verbieten, weil
diese Entscheidung viele Raucher nicht verkraften könnten.
Dennoch wendet keine der Responsen zum Thema Rauchen dieses
Prinzip an. Dazu kommt, dass die Mehrheit der Menschen
Nichtraucher sind, so dass die Mehrheit diese Entscheidung mit
Leichtigkeit tragen könnte. Und schliesslich stellt sich dieses
Prinzip als gänzlich irrelevant heraus, da die Entscheidung, wie
wir gesehen haben, keine neue Entscheidung ist. Das Rauchen
wurde durch die existierende Halachah bereits verboten und es
gibt keinen Bedarf an einer neuerlichen Restriktion.
Zusammenfassend lässt sich
sagen, dass die Entscheidung bezüglich des Rauchens von
Zigaretten eine der unglücklichsten halachischen Entscheidungen
Rabbi Feinsteins gewesen ist. Hätte er 1964 das Rauchen bereits
verboten, Tausende von Juden, denen er Rabbiner und Posek war,
hätten diese tödliche Angewohnheit aufgegeben. Wer weiss, wie
viele Leben hätten gerettet werden können? Dennoch ist es nicht
zu spät. Wir hoffen, dass die ultra-orthodoxen Poskim bald
einsehen, was andere Poskim vor Jahren anerkannten: dass das
Rauchen die Gesundheit und das Leben in erheblichem Masse
gefährdet und aus diesem Grunde durch die Halachah verboten ist.
1) Diese T’schuvah ist eine
Kurzform der Respons, die in den Responsa des Va’ad Halacha der
RA von Israel 4 (5750-5752) erschienen ist, S. 37-52.
2) Aus dem Surgeon General's Report (1990): "Durch das Rauchen
verursachte Krankheiten fordern jeden sechsten Toten in den
USA"; (Washington Post, September 26, 1990, S. 4). In Israel
verursacht das Rauchen 6000 Tote im Jahr, dies ist zehnmal mehr
als die Zahl der Toten, die bei Verkehrsunfällen ums Leben
kommen (The Jerusalem Post, April 30, 1999, S. 3) Eine
ausführliche Bibliographie s. des Va’ad Halacha der RA von
Israel4 (5750-5752), eine ausführliche Liste der
englischsprachigen Responsa s. Rabbi Moshe Auerbach, Tradition
10/ 3 (Frühjahr 1969), S. 49-60; Rabbiner J. David Bleich,
Solomon Freehof und Seymour Siegel in Elliot Dorff und Arthur
Rosett (Hg.), "A Living Tree", Albany 1988, S. 345-359; R.
Nathan Drazin in Leo Landman (Hg.) Judaism and Drugs, zweite
Aufl., NY 1973, S. 71-81; Dr. Fred Rosner, Modern Medicine and
Jewish Ethics, zweite Aufl., Hoboken und New York, 1991, S.
391-403.
4) Rotzeach 12:6; Choschen Mischpat 427:10; Yoreh De'ah 116:5
5) Maimonides, Hovel Umazik 5:1, Schulchan Aruch, Choschen
Mischpat 420:31
Maimonides:
http://hagalil.de/hagalil/judentum/rambam/maimonides.htm
Schulchan Aruch:
http://hagalil.de/hagalil/judentum/avoda-sara/karo.htm
6) (Alles BT) Megillah 7b, Pesachim 50b, Kidduschin 39b, Schabbat
32a, Ta'anit 20b; Zohar zu Bereschit 111b.
7) Igrot Mosche, Yoreh De'ah, Teil 2, Nr. 49 (1964); Yoreh De'ah,
Teil 3, Nr. 35 (1973); Choschen Mischpat, Teil 2, Nr. 76 (1981);
Noam 24 (1982), S. 302-308; Pe'er Tachat Efer, Jerusalem 1988,
S. 19. Alle weiteren Zitate sind aus diesen Responsen.
8) S. a.: die Respons zitiert von S. Freehof (Anm. 3), S. 354-355
9) Likutei Amarim, 1967, Nr. 13
10) S. a.: R. Feinstein, Igrot Mosche, Yoreh De'ah, Teil 2, S. 6.
Des Weiteren bei Alan Yuter, Judaism 28/ 2 (Frühjahr 1979), S.
155-159; Lawrence Kaplan in Moshe Sokol (Hg.), Rabbinic
Authority and Personal Autonomy, Northvale, N.J., 1992, S. 1-60;
Gershon Bacon, The Politics of Tradition: Agudat Yisrael in
Poland, 1916-1939, Jerusalem, 1996, S. 47-57
11) S. a.: Kaplan, Bacon und R. Chajim David Halevi, Aseh Lecha
Rav, Bd. 2, Tel Aviv 1978, S. 146-147..
12) S. Z, . B. R. Chajim David Halevi, Aseh Lecha Rav, in neuen
verschiedenen Tschuvot; R. Eliezer Waldenberg, Tzitz Eliezer,
Bd. 15, Nr. 39
13) Dieses Konzept findet sich ebenfalls in BT Schabbat 129b,
Niddah 31a; Avodah Sarah 30b und Yevamot 12b.
14) Viele Jahre lehnte Rabbi Ovadja Josef, der führende
sefardische Posek in Israel, es ab, das Rauchen zu untersagen.
In den letzten Jahren änderte er seine Einstellung.
S. Yedi'ot Achronot, 27. Mai 1997, S. 8.
Rabbi David Golinkin ist Rektor, Präsident und Professor für
Halacha am Schechter Institute For Jewish Studies in Jerusalem.
Er ist der Gründer des Institutes für Applied Halacha und der
Direktor des Zentrums für Frauen in der Halacha am SIJS. Er hält
den Vorsitz des Va’ad Halacha, des Law Committee der Rabbinical
Assembly, welche Responsen und halachische Leitlinien für die
Masorti (Conservative) Bewegung in Israel herausgibt.
Weitere Responsen des
Va’ad Halachah:
http://www.judentum.org/responsen/golinkin.htm
Übersetzung: S. Ruerup
hagalil.com
03-01-03 |